Willkommen zur zehnten Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter lesenswert findet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:
Rückblick. Die letzte Einleitung haben wir unter dem Eindruck mehrerer Videos von Polizeigewalt in Hongkong geschrieben, die wiederum zwei der chaotischsten und brutalsten Wochen seit Beginn der Proteste einleiteten. Während wir auf die Ergebnisse der Lokalwahlen warten, versuchen wir im Hongkong-Teil des Newsletters, das Chaos an den Unis zusammenfassen und einzuordnen – inklusive der Polytechnischen Universität, an der immer noch einige Besetzer*innen ausharren und sich weigern, sich der Polizei zu ergeben. Währenddessen gab es in China gleich zwei wichtige Leaks, die große Wellen schlugen: Dokumente aus Xinjiang und einen angeblich übergelaufenen Spion. In Taiwan reagiert die Regierung auf die Berichte des Spions, dass China die taiwanesischen Präsidentschaftswahlen beeinflussen wollte, außerdem hat die pro-chinesische KMT sich mit ihrer Liste für die Parlamentswahlen selbst ins Bein geschossen. Wir entschuldigen uns für die Verspätung und die Länge, aber die letzten beiden Wochen waren wirklich ungewöhnlich ereignisreich.
—Katharin & Nils
🇨🇳
Leaks aus Xinjiang. Chris Buckley und Austin Ramzy haben in der New York Times einen wahren Blockbuster rausgebracht: basierend auf 400 geleakten Seiten interner Parteidokumente und -reden zu und aus Xinjiang berichten sie über die Entwicklung der Internierungslager in Xinjiang in den letzten Jahren und bieten Einblicke in die internen politischen Prozesse. Generell ist der Artikel in Gesamtlänge sehr lesenswert und die Leseempfehlung der Woche, aber ein spannender Punkt war, dass der us-amerikanische „Krieg gegen den Terror“ nach 9/11 Präsident Xi anscheinend maßgeblich inspiriert hat und Terroranschläge im Westen ein Zeichen waren, wie gefährlich es ist, Menschenrechte vor Sicherheit zu stellen. Buckley und Ramsey beschreiben außerdem Widerstand innerhalb der Partei gegen die Lager, für den anscheinend Leute ihren Job verlieren. Sie zitieren auch aus dystopischen Skripten, die Parteimitgliedern dabei helfen sollen, Studierenden zu erklären, warum einer ihrer Elternteile plötzlich für unbestimmte Zeit in einem Lager ist. Sowohl Ramzy als auch Buckley wurden schon vor Jahren für ihre Berichterstattung aus China ausgewiesen.
Ausschnitt aus einem geleakten Skript für Regierungsangestellte in Xinjiang, die Fragen von uigurischen Studierenden über ihre internierten Eltern beantworten müssen: “Sie haben kein Verbrechen begangen, aber ihr Denken wurde mit ungesunden Gedanken infiziert.”
Eine Anekdote aus den Dokumenten ist die des Politikers Wang Youzhi, der anscheinend 1000 Uigur*innen aus Lagern befreit hat, sich gegen die Festnahmen ausgesprochen hatte und jetzt interessanterweise sogar in China (und auch außerhalb Chinas) als Held gefeiert wird. Als Hauptgrund für seinen Widerstand zu den Lagern nannte er ihren Effekt auf das Wirtschaftswachstum seiner Stadt, was das Hauptkriterium für die Beförderungen chinesischer Politiker*innen ist, von daher wäre ich mit der Bezeichnung „Held“ vorsichtig.
Leaks aus Xinjiang, Teil 2. Ein weiterer großer Leak, der gleichzeitig von zahlreichen internationalen Medien veröffentlicht wurde, liefert Beweise für die internen Anordnungen zu den Lagern, z.B. dass die Uigur*innen entgegen Behauptungen der Regierung definitiv nicht freiwillig dort sind („Ausbrüche sind zu verhindern“) oder dass ein Uigure zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, nachdem er einen Kollegen mit Verweis auf den Islam dazu anhielt, keine Pornos mehr zu schauen. Die sehr, sehr weitgefasste Definition von Extremismus, die hier angewandt wird, sollte dem Forscher Jim Millward zufolge Grund genug sein, allen Uiguri*innen, die es beantragen, im Ausland Asyl zu geben.
(Vermeintlicher) Chinesischer Spion packt aus. Die zweite Blockbustergeschichte der letzten zwei Wochen: Wang Liqiang, der sagt, er habe mehrere Jahre für die chinesische Regierung spioniert, ist nach Australien übergelaufen und hat in australischen Medien über seine Arbeit als chinesischer Spion gesprochen. Er habe in Hongkong für eine Firma gearbeitet, die eine Front für chinesische Spionage war und u.a. versucht, die Hongkonger Demokratiebewegung zu unterwandern. Er berichtet auch von Arbeit in der Taiwan, bei der er versuchte, Wahlen zu beeinflussen. Aus dem Artikel geht nicht hervor, inwieweit die Zeitung Beweise für seine Aussagen hat. Die Shanghaier Polizei sagt, dass Wang ein Krimineller sei, der erst im April vor der Strafverfolgung nach Hongkong geflohen sei und nicht schon seit Jahren dort arbeitet, wie er im Interview sagte. Gleichzeitig kommen auch von anderer Seite Zweifel an seiner Geschichte auf: Die taiwanesische Grenze hat er z.B. laut den Immigrationsbehörden dort nie überquert. Ich teile die Einschätzung von Adam Ni und Yun Jiang bei Neican, dass Wangs Aussagen bisher nichts wirklich Neues offenbart haben und dass es sehr viele, ernstzunehmende Ungereimtheiten an seiner Geschichte gibt.
Bundeswehr trainiert Volksbefreiungsarmee. Die Bild hat Zugang zu geleakten Dokumenten bekommen, denen zufolge die Bundeswehr in ihren Weiterbildungen für ausländische Soldat*innen auch Mitglieder der chinesischen Volksbefreiungsarmee (PLA) weiterbildet. Es gab einen Kommentar von Amnesty, aber gerade angesichts der Lage in Hongkong bin ich etwas überrascht, dass diese Nachricht komplett untergegangen zu sein scheint. Zugegeben, die kontroversesten Projekte der PLA der letzten zwei Jahrzehnte, die mir auf Anhieb einfallen, sind vermutlich Industriespionage und die Inseln, die sie im südchinesischen Meer mitbauen und trotz aktueller politischer Spannungen ist ein militärischer Konflikt zwischen China und Deutschland oder den USA eher unwahrscheinlich. Die Optik ist trotzdem schlecht.
Huawei in Deutschland. Nachdem die Regierung eine Beteiligung Huaweis am deutschen 5G-Netz nicht grundsätzlich ausschließen wollte, hat der CDU-Parteitag jetzt einen gegenteiligen Antrag beschlossen: Er sieht vor, dass ein Unternehmen nur zum 5G-Netz beitragen kann, wenn „Einflussnahme durch einen fremden Staat auf unsere 5G-Infrastruktur ausgeschlossen ist“. Der Antrag richtet sich ziemlich klar gegen Merkel, die sich anscheinend persönlich gegen eine härtere Regelung eingesetzt hatte. Es ist aber auch unklar, wie so etwas überprüft werden soll, da letztendlich jedes ausländische Unternehmen von seiner Heimatregierung „beeinflusst“ werden könnte. Im Deutschlandfunk gab es einen sehr guten und differenzierten Beitrag zum Thema, in dem Chinakorrespondent Steffen Wurzel u.a. klar sagt, dass Aussagen, Huawei unterstehe direkt der chinesischen Regierung, Quatsch sind. Er weist darauf hin, dass die größten Probleme schlicht die Intransparenz des chinesischen Systems und die daraus resultierende Unsicherheit sind.
Zensur bei TikTok. Die Diskussion setzt sich aus den vergangen Wochen fort. Netzpolitik.org hat mit einer Quelle bei TikTok Deutschland gesprochen und Zugriff auf Moderationsguidelines der App bekommen. Sie beschrieben u.a. dass Videos nicht unbedingt zensiert werden, sondern als “visible to self” markiert werden können, sodass Uploader ihre eigenen Videos sehen, sie aber nicht in der Suche auftauchen. Anscheinend hat TikTok aber tatsächlich als Reaktion auf scharfe Kritik seine Guidelines geändert, sodass politische Kritik und Demonstrationen nicht per se Tabu sind. Unterdrückt werden könne sie allerdings immer noch, indem sie nicht empfohlen werden, und anscheinend passiert das weiterhin. Netzpolitik schließt daraus, dass TikTok unter direktem Einfluss des chinesischen Staates steht, was die Funktion des Zensursystems in China etwas verkennt: Viel Zensur ist schlicht vorauseilender Gehorsam, um Ärger mit der Regierung zu vermeiden, aber nicht unbedingt ein Zeichen direkter Einflussnahme. Um zu wissen, was im Fall von TikTok passiert, reichen die Informationen nicht.
Air Moving Device, ein anonymer Twitterer mit Fokus auf Datenanalyse zu Chinathemen, hat außerdem den Upload-Review-Prozess der internationalen und chinesischen Version von TikTok (Douyin) getestet. Er zeigt, dass bestimme Videos mit sensiblen Hashtags sowohl in China als auch im Ausland einen Reviewprozess anstoßen. In China werden sie daraufhin fast immer zensiert, in der internationalen Version werden sie hingegen nach einem Review freigeschaltet. In Reaktion auf seine Tweets scheint TikTok diesen Prozess geändert zu haben.
Huawei in den USA. In den USA hatten sich vor allem kleine Netzanbieter auf dem Land erhofft, die erschwingliche Hardware aus China für ihren 5G-Netzausbau nutzen zu können. Jetzt hat allerdings das FCC beschlossen, dass Unternehmen, die Huawei- oder ZTE-Hardware nutzen, keine Subventionen für ihren Netzausbau bekommen, was den chinesischen Anbieter deutlich unattraktiver machen könnte – es geht hier um Zugang zu $8,5 Milliarden an Subventionen. Die Entscheidung würde zu einer Strategie passen, die es darauf angelegt hat, Huawei und ZTE nach und nach aus dem US-amerikanischen Markt auszuschließen. Gleichzeitig gibt es ja in den USA mittlerweile eine Lizenz, die Unternehmen beantragen müssen, um überhaupt mit Huawei Geschäfte zu machen – und diese Lizenzen wurde gerade wieder um 90 Tage verlängert. Hier geht der bilaterale Handel also weiter.
Chinesische Sexarbeiter*innen in den USA. Wir hatten schon mehrfach über die Arbeitsbedingungen oft illegaler chinesischer Migrant*innen im Ausland geschrieben, aber die Geschichte der Sexarbeiter*in Song Yang ist besonders tragisch und bekommt gerade überraschend viel Aufmerksamkeit. Es gibt sogar eine sehr einfühlsame Geschichte in der New York Times zu ihr – wie sie in Nordchina aufwuchs, mit einem Restaurant in Japan scheiterte, begann, in New York „Massagen“ anzubieten und permanent gewalttätigen Männern ausgesetzt war, und letztendlich bei einem Polizeieinsatz, bei dem sie festgenommen wurde, in ihren Tod stürzte. Ihr Tod inspirierte auch die Gründung der Organisation Red Canary Song, die sich für migrantische Sexarbeiter*innen und gegen Polizeitaktiken einsetzt, die illegalisierte Menschen nur weiter gefährden.
Chinas schwules Magazin aus dem Untergrund. Ich hatte 2016 zum ersten Mal eine Ausgabe von GS (gayspot) in der Hand, als ich in Beijing das LGBTQ*-Zentrum für eine Recherche besuchte. Damals war ich beeindruckt, dass GS scheinbar die einzigen Umfragedaten zu Scheinehen in der queeren Community hatte und habe das Magazin auf WeChat weiter im Auge behalten. Für SupChina schrieb Dave Yin nun über die Geschichte von GS (das älteste queere Magazin Chinas), wie es sich an die zunehmend schwierigen politischen Bedingungen in China anpasst und trotz aller Schwierigkeiten überlebt.
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Um den chaotischen Ereignissen der letzten Wochen gerecht zu werden, gehe ich in chronologischer Reihenfolge auf die großen Ereignisse seit dem 11. November ein, sodass hoffentlich eine Art Narrativ aus den chaotischen Bildern entsteht, die überall zu sehen waren. Meinen ersten Versuch einer Erklärung von vor einer Woche gibt es bei Zeit Online ebenso wie ein TL;DR in Podcastform.
11.11. Schießerei, Feuer und Protest der Wohlhabenden. Nachdem die Demonstrierenden für den 11. November einen Generalstreik aufgerufen hatten, gab es schon am frühen Morgen Tränengas und einen Schuss aus nächster Nähe auf einen 21-jährigen Demonstranten. Sofort gingen unheimlich gewaltvolle Videos von dem Vorfall um, in denen teils der Polizist einen scheinbar leblosen Körper fesselte. Kurz darauf ging auch ein Video von einem Verkehrspolizisten viral, der mit seinem Motorrad gezielt in eine Gruppe von Demonstrierenden raste. Als Reaktion auf Videos gingen in Central, dem Finanzdistrikt Hongkongs, auf einmal Banker*innen und andere wohlhabende Angestellte in Kostüm und Highheels oder Anzug und Lederschuhen auf die Straße - und wurden prompt auch mit Tränengas beschossen. Gleichzeitig ging auch ein Video um, in dem scheinbar ein Demonstrant einen politischen Gegner mit Benzin übergießt und anzündet. Es sagt viel über das Chaos am letzten Montag aus, dass dieses Video scheinbar komplett unterging und es keine merkbare öffentliche Reaktion gab.
11.–16.11. Unibesetzungen und die Schlacht um CUHK. Die andere und öffentlichkeitswirksamere Reaktion auf die Schießerei am Montag war die Besetzung mehrerer Unis in Hongkong, darunter die Chinese University Hong Kong (CUHK) und die Polytechnic University (PolyU). Motivation für die Besetzung war wohl u.a. eine strategische Eskalation als Antwort auf die Ereignisse am Vormittag und die strategische Position verschiedener Unis, von denen aus die Demonstrierenden wichtige Autobahnen blockieren konnten. Die Besetzung war strategisch bedeutend, da die Demonstrierenden hier zum ersten Mal versuchten, einen festen Ort zu verteidigen, anstatt „Wasser zu sein“ und abzuziehen, wenn die Polizei ankommt.
In der Nacht auf Dienstag kam es zur ersten großen Auseinandersetzung: Die Demonstrierenden versuchten, den Campus der CUHK gegen die Polizei zu verteidigen, von dem aus sie eine Autobahn im Norden Hongkongs blockieren konnten. Es gab über Nacht eine wahre Schlacht um die Brücke, die den Hauptzugang zum Campus bildet, und nach mehreren Stunden zog die Polizei sich zurück. Mehrere dutzend Demonstrierende wurden verletzt und eine Verhandlungsversuch der Unipräsidenten Rocky Tuan wurde durch eine Ladung Tränengas seitens der Polizei beendet. An den folgenden Tagen richteten die Demonstrierenden sich an den Unis ein: Sie betrieben, unterstützt von Helfer*innen aus der ganzen Stadt die Kantinen, fuhren Busse auf dem großen CUHK-Campus, bauten Barrikaden und produzierten Molotovcocktails am Fließband, um ihre neuen Hochburgen im Zweifel gegen die Polizei verteidigen zu können. Das Semester an den meisten Hongkonger Unis wurde frühzeitig beendet.
Tatsächlich kam es über die folgenden Tage immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei an den einzelnen Unis. In diesem Rahmen wurden auch zwei deutsche Austauschstudenten scheinbar grundlos festgenommen. Gleichzeitig gab es Uneinigkeit unter den Demonstrierenden, die sich uneinig waren, wie man die besetzten Unis strategisch nutzen sollte, was viele dazu brachte, die Unis nach und nach wieder zu verlassen. Es gab auch Streit zwischen Demonstrierenden, die selber an den Unis studieren, und „Außenseiter*innen“, die teils auf den Campussen randalierten. Letztendlich scheinen diese Richtungsstreits der Einigkeit der Bewegung aber keinen Abbruch getan zu haben. Angesichts eines scheinbar unbesiegbaren Gegners gilt weiter die Prämisse, dass Einigkeit über allem steht.
17.11. Die Belagerung der PolyU. Am Sonntag, als viele Leute die anderen Unis bereits verlassen hatten, entschied die Hongkonger Polizei sich anscheinend, an der PolyU ein Exempel zu statuieren, kesselte die Uni ein und drohte, nach Ablauf eines Ultimatums alle Leute in der Uni notfalls mit Gewalt festzunehmen. An einem von der Polizei als „sicher“ designierten Ausgang wurden allerdings Journalist*innen und Ersthelfer*innen durchsucht und teils festgenommen, die Besatzer*innen hielte den Ausgang für eine Falle. Nach dem Ablauf des Ultimatums versuchte die Polizei eine dramatische lange Nacht lang, Demonstrierende von der Zugangsstraße zur PolyU zu vertreiben, die mit Regenschirmen und Molotovs stundenlang mehrere Wasserwerfer abhielten und einen sogar in Brand setzten. Die Nacht endete mit einer gescheiterten Stürmung durch die Polizei, bei der die Besetzenden Teile der Uni anzündeten, in einem Patt: hunderte Studierende in der Uni, eingekesselt von der Polizei.
Am Montagabend gingen tausende von wahrlich nicht besonders radikal aussehenden Leuten auf die Straße und versuchten, den Polizeikessel von außen aufzubrechen. Im Laufe dieses Protestes gab es die bisher dramatischsten und auch aufstands-ähnlichsten Szenen der Proteste, bei denen Steine aus ganzen Straßenzügen ausgebuddelt wurden, um Straßen zu blockieren. Auch seitens der Polizei gab es neue Dimensionen der Gewalt: ein Auto raste auf eine Menschenmenge zu und in mehreren Szenen traten Polizisten auf festgenommene Demonstrierende ein. Es ist schwer, alle wichtigen Momente der Nacht zusammenzufassen, aber der wichtigste war die dramatische Flucht von bis zu 100 Demonstrierenden, die sich von einer Brücke abseilten und von wartenden Motorrädern weggefahren wurden. Doch der Großteil der Besetzer*innen steckte weiter fest. Standnews hat einen unheimlich guten, tagebuchartigen Text über diese anderthalb Tage in der besetzten Uni (inoffizielle Übersetzung), Reuters einen guten Bericht. Eine visualisierte Zusammenfassung gibt es bei der New York Times.
Im Laufe des Dienstags und der folgenden Tage gab es mehrere gescheiterte Fluchtversuche und mehrere große Gruppen von Besetzenden, die sich der Polizei ergaben – manche aus Angst und Stress, manche aus medizinischen Gründen und purer körperlicher Erschöpfung. Manche Leute versuchten sogar, durch die Kanalisation zu fliehen. Berichte in den folgenden Tagen machten klar, dass in der Uni bei weitem nicht nur „Radikale“ festsaßen, sondern auch ältere Frauen, die beim Kochen helfen wollten, zahlreiche Ersthelfer*innen, ein japanischer Tourist und mindestens ein Vater, der nach seinem minderjährigen Sohn gesucht hatte. Auch außerhalb der Uni warteten verzweifelte Eltern auf Neuigkeiten von ihren Kindern in der Uni. Überraschend viele machen ihren Kindern dabei keine Vorwürfe für die Besetzung. Insgesamt wurden mehr als 1000 Leute um die PolyU herum festgenommen, 200 von ihnen wurden am Dienstag direkt in einer Massenanklage wegen Aufstands angeklagt. Das entsprechende sehr vage Gesetz dazu stammt noch aus der Kolonialzeit, die Höchststrafe sind 10 Jahre Haft. Insgesamt wurden seit Beginn der Proteste mehr als 5.000 Menschen festgenommen.
Nach aktuellem Stand sitzen immer noch ein paar dutzend Leute in der Uni fest, die sich weiterhin nicht ergeben wollen. Ärzte ohne Grenzen hat ein Team vor Ort und u.a. Sorge zum psychischen Zustand der Festgesetzten geäußert, die Atmosphäre in der teils zerstörten Uni klingt surreal. Anscheinend hat Regierungschefin Carrie Lam die Polizei überzeugen können, einfach zu warten, bis sich die letzten Leute ergeben. Ihre Formulierung trägt zur weitverbreiteten Sorge bei, dass sie die Polizei nicht mehr wirklich unter Kontrolle hat.
Ein PR-Meme der Protestbewegung hält Leute dazu an, wählen zu gehen
24.11. Distriktwahlen. Trotz der krassen Bilder Anfang der Woche und Drohungen der Regierung fanden am Sonntag die Kommunalwahlen statt, in der Hongkonger*innen mehr als 450 Abgeordnete in 18 Distriktverordnungen wählen. Die Verordnungen kümmern sich um Lokalpolitik und stellen 117 Elektor*innen der 1,200 Leute starken Versammlung, die die*den Regierungschef*in wählt. Mit mehr als 71,2 Prozent gab es die höchste Wahlbeteiligung in Hongkongs Geschichte, die tatsächlich vor allem der Demokratiebewegung zugute kam: Sie holten 388 Sitze (59 gingen an pro-Beijing Kandidat*innen) und kontrollieren jetzt 17 der 18 Distriktverordnungen. Gewählt wurde nach dem Mehrheitsprinzip, in Prozenten holten sie knapp unter 60 Prozent aller Stimmen. Nach der Verzweiflung und Gewalt der letzten Tage war die unglaubliche Freude bei der Verkündigung vieler prodemokratischer Wahlergebnisse absoluter Balsam für die Seele.
Ein PR-Meme kommentiert eine Karte der Wahlergebnisse: “Wo ist die (schweigende) Mehrheit? Hier ist der Wille des Volkes!” (gelb = demokratischer Sitz)
Die weiteren Meldungen
Folteranschuldigungen gegen China. Im Sommer verschwand Simon Cheng, ein Angestellter des britischen Konsulats in Hongkong, für zwei Wochen. Es stellte sich heraus, dass er von der chinesischen Polizei an der Grenze zu Hongkong festgenommen worden war. Jetzt beschuldigt er die chinesische Polizei in mehreren Interviews und einem Facebookpost, ihn in diesem Zeitraum gefoltert und u.a. zur britischen Botschaft ausgefragt zu haben.
Vermummungsverbot gekippt, aber nicht wirklich. Am 18.11. erklärte das höchste Gericht Hongkongs das Vermummungsverbot, das die Regierung Anfang Oktober eingeführt hatte, für grundgesetzwidrig. Einen Tag später verkündete der Chinesische Volkskongress, dass das Gericht diese Befugnis gar nicht habe und das letzte Wort in China liege, woraufhin das höchste Gericht die Suspension wieder suspendierte. Verwirrt? Geht Anwält*innen in Hongkong genauso. Aktueller Status ist unklar, aber die klare Einmischung aus China ist ungewöhnlich. Bisher hat die Regierung in Peking nur einmal auf ihr Recht gepocht, das Hongkonger Grundgesetz zu interpretieren.
Volksbefreiungsarmee-PR-Debakel. Die chinesische Volksbefreiungsarmee versuchte, etwas PR-Arbeit in Hongkong zu leisten, indem sie sich nach einem Protest „freiwillig“ an den Aufräumarbeiten in Hongkong beteiligte und ein paar Propagandafloskeln über „positive Energie“ auf die Presse warf. Statt Dankbarkeit gab es einen Backlash von vielen, die die Aktion als Drohgebärde und Einmischung wahrnahmen – eine gute Illustration, dass chinesische Propaganda in einer freien Gesellschaft nicht funktioniert.
Ab wann endet der Rechtsstaat? Wie oben schon angedeutet gibt es in Hongkong gerade zunehmend Zweifel, ob die Regierung die Polizei noch unter Kontrolle habe oder ob die Befehlskette in Krisensituationen noch funktioniert. Die FT greift in einem sehr guten Text die Frage auf, ob Hongkong noch ein Rechtsstaat ist – und woran man erkennen würde, wenn nicht. Ein Warnzeichen: Bisher wurde trotz zahlloser, gut dokumentierter Momente der Polizeigewalt erst ein (1!) Polizist vom Dienst suspendiert, Fehlverhalten scheint keine Konsequenzen mehr zu haben. „Niemand hält sich mehr an die Regeln,“ sagt ein anonymer Polizist im Interview (Link über Twitter, um Paywall zu umgehen).
„Hong Kong Human Rights and Democracy Act“. Ein Gesetz, dass gerade sowohl im Unter- als auch Oberhaus der USA beschlossen wurde und jetzt auf die Unterschrift von Trump wartet. Es wird von vielen Leuten in Hongkong als eine Art gesehen, um wirtschaftlichen Druck auf China auszuüben, indem es u.a. Hongkong seinen wirtschaftlichen Sonderstatus entzieht, wenn die politische Situation sich dort nicht mehr ausreichend von China unterscheidet. Trump hat angedeutet, das Gesetz eventuell als Druckmittel im Handelskrieg mit China zu benutzen, was mal wieder zeigt, wie gefährlich es ist, sich auf die USA zu verlassen. Auch linke Aktivist*innen üben schon länger scharfe Kritik an dem Gesetz, das u.a. antichinesischen Rassismus in den USA fördern könnte und Hongkongs Autonomie nur von einem anderen großen Land abhängig würde.
Medizinische Versorgung bei den Protesten. Krankenhäuser in Hongkong kämpfen mit zunehmenden Misstrauen bei den Demonstrierenden, die befürchten, dass die Polizei sie im Krankenhaus festnehmen könnte, wenn sie sich medizinisch versorgen lassen. Das macht es umso wichtiger, dass Leute mit entsprechender Ausbildung bei den Protesten als freiwillige Ersthelfer*innen dabei sind. Doch die Polizei schreckt anscheinend immer mehr Leute durch Festnahmen von Ersthelfer*innen davon ab.
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Reaktionen auf Chinas Spion. In Reaktion auf die Aussagen des vermeintlichen Spions aus China (s. oben) hat Taiwan seinen ehemaligen Boss festgesetzt, der zufällig gerade in Taiwan war. Falls die Aussagen sich als wahr herausstellen sollten, könnte das ein enormer politischer Erfolg für Taiwan sein, aber politisch sensibel werden. Gleichzeitig versucht die Regierung ein Gesetz durch das Parlament zu bringen, das ein besseres Durchgreife gegen ausländische Spione (sprich: chinesische Spione) ermöglichen soll. Es ist unklar, ob ein scheinbar hastig zusammengestelltes Gesetz die beste Reaktion ist, aber es ist nun mal Wahlkampfzeit in Taiwan.
Deutschlands Ein-China-Politik. Am 9. Dezember muss die deutsche Regierung in Antwort auf eine Bundestagspetition erklären, warum sie die Volksrepublik (und nicht Taiwan) anerkennt. Man beachte: Der verlinkte Spiegel-Artikel scheint korrekt zu sein, was die innenpolitischen Fakten angeht, aber macht leider mehrere faktische Fehler zu Taiwan, die Klaus Bardenhagen auf Twitter aufarbeitet und korrigiert.
Die Rolle der Hongkonger Proteste bei den Wahlen in Taiwan. Ein beliebtes Narrativ im Ausland ist, dass die Hongkonger Proteste in Taiwan die pro-chinesischen Parteien schwächen würden. Auf den ersten Blick wirkt das intuitiv, aber ein Blick auf Umfragedaten zeigt, dass sie die Unterstützung für Präsidentin Tsai Ing-wen oder ihren Herausforderer Han Kuo-yu nicht maßgeblich beeinflusst haben. In der Vergangenheit haben viele Freund*innen von mir in Taiwan sich auch immer wieder darüber geärgert, wie wenig taiwanesische Medien über die Proteste berichten. Dennoch gibt es definitiv starke Untertstützung für die Hongkonger Protestbewegung in der taiwanesischen Zivilgesellschaft, die unter anderem Ausrüstung wie Gasmasken oder Helme nach Hongkong geschickt hat. Vor einigen Tagen gab es außerdem ein großes Solidaritätskonzert und einen neuen, den Protesten gewidmeten Song von Fire Ex.
Tsai verteidigt ihr Singledasein. Die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen wurde mal wieder dafür kritisiert, eine unverheiratete, ledige Frau zu sein. Pro-chinesische Kritiker warfen ihr vor, als Frau ohne Kinder unqualifiziert zu sein, Entscheidungen über die Zukunft Taiwans zu fällen. Unabhängig davon, was man von ihrer Politik hält, muss man sie einfach dafür lieben, wie sie als Reaktion darauf austeilt: „Persönliche Attacken gegen jemandes Geschlecht oder Zeugungsfähigkeit sind eine Attacke gegen alle Frauen und untergraben die ernsthafte Arbeit der Regierung.“
Parteilisten und Vizekandidat*innen. In Taiwan wird ein kleiner Teil der Sitze im Parlament proportional über Parteilisten besetzt und sowohl die DPP als auch die KMT haben kürzlich ihre Listen veröffentlicht. Wie in Deutschland interessiert Listenpolitik in Taiwan die wenigsten, aber die KMT hat eine so kontroverse Liste zusammengestellt, dass ihr das bei den Wahlen schaden könnte: Sie hat u.a. einige äußerst pro-chinesische Politiker draufgesetzt, die in China auf KP-Events die chinesische Hymne gesungen haben oder sich explizit dafür aussprechen, für Taiwan den gleichen Status wie für Hongkong (Ein Land, zwei System) zu erlangen. Auch ich bezeichne die KMT oft verkürzt als pro-chinesisch, aber so pro-chinesisch ist sie normalerweise nicht. Auch traurig: Die DPP von Präsidentin Tsai Ing-wen hatte kurz eine indigene Frau an erster Stelle ihrer Liste, geriet dann aber in einen rassistischen Shitstorm und stricht sie komplett von ihrer Liste.
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