Willkommen zur 23. Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter lesenswert findet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:
Rückblick. Willkommen zurück aus der ungeplanten Sommerpause! Nachdem Katharin im September einige richtig lange Klausuren bewältigt hat, geht es diese Woche endlich weiter – mit einem etwas anderen Format als sonst. Statt alle Ereignisse der letzten drei Monate zusammenzufassen, präsentieren wir nur drei große Geschichten: In Hongkong geht es um die weitere Einschränkung politischer Freiheiten, was am deutlichsten in der Verschiebung der Wahl zum Legislativrat konzentrieren. In China gilt unser besorgter Blick den sich weiter verschlechternden Beziehungen zu den USA. In Taiwan profitiert Präsidentin Tsai weiterhin vom Corona-Bonus und versucht ihn zu nutzen, um Schweinefleischimporte aus den USA zu ermöglichen. Wie immer freuen wir uns über Feedback! Was haltet ihr vom Format diese Woche? Würdet ihr gern häufiger solche längeren Geschichten lesen oder bevorzugt ihr das alte Format mit vielen kürzeren Meldungen?
—Katharin & Nils
🇨🇳
Liebesgeschichte USA und China.
Ein Überblick über einige der Maßnahmen der letzten drei Monate, die nochmal maßgeblich zur Verschlechterung der US-chinesischen Beziehungen beigetragen haben:
9. Juli: Magnitsky-Act Sanktionen gegen Regierungsgmitglieder wegen der Lager in Xinjiang.
23. Juli: USA erzwingen Schließung des chinesischen Konsulats in Houston; US-Konsulat in Chengdu wird im Gegenzug geschlossen.
Seit August: USA wollen TikTok in den USA sperren oder Verkauf erzwingen.
15. September: 1.000 Visa von Studierenden und Forschenden aus China gecancelt, darunter z.B. ein Student, der bei seinen Eltern in einem militärischen Wohnkomplex registriert war.
27. September: neue Exportregeln erschweren SMIC in China Halbleiterherstellung und treffen damit indirekt auch Huawei. (Im Juni hatte ich bei der ZEIT mal näher beschrieben, was Halbleiter für Huawei so wichtig macht).
20. September: USA wollen nun auch Sperrung von WeChat erzwingen, was erstmal gerichtlich verhindert wurde.
3. Oktober: US-Einwanderungsbehörde erneuert eine alte Regel, die Mitgliedern kommunistischer Parteien die Einwanderung in die USA verbietet.
Okay, aber was bedeutet das?
Die Schließung des Konsulats in Houston ist ein gutes Beispiel dafür, wie die US-Außenpolitik gerade öfters nach hinten losgeht: Es gab keine offizielle Begründung bis auf eine hastig nachgeschobene Erklärung, aus dem Konsulat heraus werde Spionage betrieben. Ich habe allerdings bisher von keiner glaubwürdigen Quelle außerhalb der US-Regierung gehört, die bestätigt, dass die Schließung des Konsulats in irgendeiner relevanten Weise chinesische Spionage in den USA unterbindet – also wenig bis gar kein strategischer Gewinn, stattdessen reine Symbolpolitik. Stattdessen hat China allerdings im Gegenzug die Schließung des US-Konsulats in Chengdu erzwungen, von wo aus das State Department sowohl Tibet als auch Xinjiang bearbeitet. Die US-Regierung hat mit diesem Zug also nichts gewonnen, aber Einblicke in zwei politisch sensible Regionen mit vielen Mitgliedern ethnischer Minderheiten in China verloren.
Warum?
Generell kann man also konstatieren, dass die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und China vor allem von den USA ausgeht. Aus strategischer Sicht ist allerdings auch unklar, was die US-Regierung mit diesen Maßnahmen erreichen möchte, denn wirklich effektiv wirken die Maßnahmen der letzten Monate nicht: Weder in Hongkong noch in Xinjiang hat sich irgendetwas getan und die USA scheinen auch keinen entsprechenden Plan zu haben. Auch die Begründungen für das Vorgehen gegen TikTok oder WeChat – diese Apps seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit – sind schwer haltbar und werden von keinen glaubhaften Stimmen im Bereich Netzpolitik in den USA unterstützt. Manche Analyst*innen weisen darauf hin, dass es deutlich sinnvoller wäre, endlich robuste Datenschutzgesetze einzuführen, die für alle Unternehmen in den USA gelten und nicht nur für die, die zufällig gerade im Visier der Regierung sind (Leseempfehlung: Banning TikTok is a terrible idea von Samm Sacks). Es drängt sich wirklich der Eindruck auf, die Chinapolitik der aktuellen US-Regierung habe es entweder auf öffentlichkeitswirksame Maßnahmen im Hinblick auf die Wahlen abgesehen oder wolle chinesischen Firmen und der chinesischen Regierung aus Prinzip gerade einfach ein bisschen schaden – oder beides. Falls es irgendwelche schlüssigen strategischen Begründungen für die getroffenen Maßnahmen gibt: immer her damit, denn ich weiß bisher von keinen.
Wie gehts weiter?
Die US-Präsidentschaftswahlen Anfang November werden natürlich ein wichtiger Punkt für die bilaterale Beziehung sein. Bisher hat die chinesische Regierung davon abgesehen, die letzten Maßnahmen aus den USA zu vergelten – vermutlich möchte auch sie die Ergebnisse der Wahlen abwarten. Den Demokraten wird oft vorgeworfen, unter Obama zu nett zu China gewesen zu sein, aber es war schon 2016 klar, dass auch eine Regierung unter Clinton die Beziehung zu China neu evaluiert hätte. Eine Rückkehr zu dem weniger konfrontativen Kurs Obamas wäre also auch unter Biden eher unwahrscheinlich. Die Frage ist jedoch, wie viel Druck er auszuüben bereit ist. Durch bestehende Maßnahmen wie diverse Importzölle oder schmerzhafte Technologiesanktionen hätte er definitiv einige Druckmittel in der Hand, um Zugeständnisse zu erzwingen.
Abseits der „high politics“ zwischen den Regierungen und des Ergebnisses im November wird das Jahr 2020 allerdings nachhaltige Schäden in der bilateralen Beziehung hinterlassen: Das im Januar erlassene Einreiseverbot für China gilt in den USA bis heute, obwohl China seit Monaten deutlich weniger COVID-19-Fälle als die USA hat. Hinzukommen zahlreiche andere Maßnahmen, die ganz klar darauf angelegt sind, chinesische Einwanderung in die USA für Studium oder Arbeit zu erschweren oder zu verhindern, z.B. die gecancelten Visa oder die Maßnahme gegen Mitglieder der Kommunistischen Partei (eine Mitgliedschaft, die viele in China aus Karrieregründen aufnehmen). Studierende fühlen sich einer enormen Willkür ausgesetzt und fragen sich, warum sie jemals in die USA wollten, denn nun sehen sie dort teils keine berufliche Perspektive mehr. Gleichzeitig stärken diese Erfahrungen im Zweifel auch ihren Zuspruch für die chinesische Regierung (wie in der englischen Zusammenfassung einer aktuellen Studie zu lesen ist).
Bonus: Das Ende der Hutongs. Ein dokumentarischer Blick auf die engen Gassen des alten Pekings, bekannt als Hutongs, die in den letzten Jahren nach und nach verschwanden oder aber ihre charakteristische Eigenschaft als öffentlicher Raum verloren.
🇭🇰
In der letzten Ausgabe hatten wir uns ausführlich den ersten Folgen des nationalen Sicherheitsgesetzes in Hongkong gewidmet, das innerhalb weniger Tage eine enorme Wirkung auf die Stadt hatte. Die Folgen haben sich seitdem weiter fortgesetzt: Schulbücher wurden an die neue Gesetzeslage angepasst; an der Hong Kong University wurden Lehrende anscheinend in einer internen Email gewarnt, sich von sensiblen Themen fernzuhalten; Anfang August durchsuchte die Polizei auf Basis des Gesetzes die Redaktion der pro-demokratischen Boulevardzeitung Apple Daily; und zahlreiche junge Aktivist*innen wurden unter dem neuen Gesetz festgenommen oder als gesucht gemeldet. Ich habe schon im August fünf von ihnen porträtiert – es fällt vor allem auf, wie unglaublich jung viele von ihnen noch sind. Einen sehr guten Überblick über die Auswirkungen des Sicherheitsgesetzes nach drei Monaten hat Jennifer Creery für Hong Kong Free Press aufgeschrieben.
Einige der wichtigsten Ereignisse der letzten Monate:
10. Juli: Hongkonger Polizei durchsucht Büro des Umfrageinstituts PORI, das bei der Organisation der demokratischen Vorwahlen hilft.
11. und 12. Juli: Demokratische Kräfte der Stadt organisieren Vorwahlen für den Legislativrat, um ihre Chancen bei der Wahl zu maximieren.
30. Juli: Mehrere Kandiderende der pro-demokratischen Opposition werden von den Wahlen disqualifiziert.
31. Juli: Hongkonger Regierung verschiebt Wahlen zum Legislativrat, die im September stattfinden sollten, um ein Jahr. Offizieller Grund ist die steigende Inzidenz von COVID-19-Fällen in Hongkong.
28. August: Die chinesische Küstenwache nimmt zwölf Hongkonger fest, die mit einem Boot nach Taiwan fliehen wollten. Der Jüngste von ihnen ist 16 und alle zwölf können wohl mit einem Verfahren in China rechnen, bei dem sie keinen Zugang zu den Anwälten haben werden, die ihre Familien für sie engagiert haben.
9. September: Es ist jetzt wohl die offizielle Position sowohl der Hongkonger Regierung als auch der chinesischen Regierung, dass die Stadt keine Gewaltenteilung hat.
22. September: Hongkonger Polizei möchte jetzt nur noch bestimmte Medien anerkennen. Freie, Online- oder Studi-Journalist*innen könnten unter den neuen Regeln festgenommen werden, wenn sie über Proteste berichten.
Als Schwerpunkt für Hongkong wollte ich mich kurz den Legislativwahlen widmen, die eigentlich für September angesetzt waren.
Hä, Wahlen in Hongkong?
Wenn ich Wahlen in Hongkong erwähnt habe, ist mir in den letzten Monaten immer wieder die Frage begegnet: „Warum protestieren die denn für Demokratie, wenn sie wählen dürfen?“ Die kurze Antwort ist, dass Wahlen allein noch keine Demokratie ausmachen. Auch in Nordkorea, China oder Singapur gibt es Wahlen, doch keines dieser Länder hat wirklich demokratisch gewählte Regierungen.
Die längere Antwort: Demokratie ist kompliziert und neben den Wahlen gehören noch andere Sachen dazu, etwa grundlegende Rechte wie Pressefreiheit oder ein ebenes Spielfeld für verschiedene Parteien. Auch bei freien Wahlen gibt es institutionelle Kniffe, mit denen Regierungen wie z.B. in Singapur systematisch verhindern, dass die Opposition an die Macht kommt (zu Singapurs Wahlsystem hatte New Naratif im Juni eine sehr gute und ausführliche Podcastfolge). Auch die Legislativwahlen in Hongkong fallen in diese Kategorie: Bei diesen Wahlen wird quasi die politische Opposition gewählt, denn die*der Regierungschef*in steht gar nicht zur Wahl. Stattdessen wird darüber abgestimmt, wer die 75 Sitze im Hongkonger Legislativrat bekommt. Allerdings wird nur ein Teil der Sitze über direkte Wahlen in Bezirken bestimmt, wie sie aus z.B. Deutschland bekannt sind. Die andere Hälfte der Sitze wird über so genannte „functional constituencies“ vergeben, in denen nur Angehörige bestimmter Berufsgruppen wählen dürfen und die tendenziell eher an Vertreter des pro-chinesischen politischen Establishments gehen. Das bedeutet z.B., dass Angestellte in der Finanzindustrie statt in ihrem Wohnbezirk in ihrer „functional constituency“ wählen können, wodurch ihre einzelne Stimme plötzlich deutlich an Einfluss gewinnt.
Theoretisch ist es also möglich für prodemokratische Parteien, eine Mehrheit im Legislativrat zu erhalten. Das System erschwert ihnen das allerdings ganz erheblich und bisher haben sie es noch nie geschafft.
Außerdem gibt es in Hongkong Wahlen für lokale Bezirksverordnungen, die nach dem Prinzip der einfachen Mehrheit gewählt werden und damit die einzige direkt gewählte politische Vertretung der Hongkonger*innen sind – allerdings über die lokale Ebene hinaus auch nicht wirklich Macht haben. Letzten November hatten pro-demokratische Kräfte mit einem historischen Ergebnis fast alle Sitze in den Bezirksverordnungen übernommen. Es war ein unglaublicher Moment der Euphorie und ein Zeichen, wie sehr die öffentliche Meinung sich gegen die Regierung gewandt hatte.
Aber warum sind die Wahlen dann wichtig?
1) Symbolik. Ich kann allen nur empfehlen, sich die Videos der Parties nach Verkündigung vieler lokaler Wahlergebnisse im November anzuschauen (z.B. die Feier bei der Abwahl von Junius Ho am Anfang dieses BBC-Videos oder ein spontaner Champagner-Ausschank auf der Straße). Viele Leute waren bis spät in die Nacht aufgeblieben, um bei der Auszählung dabei zu sein und die Ergebnisse abzuwarten. Nach monatelangen Protesten für Demokratie war es ein winziges bisschen Macht, das pro-demokratische Hongkonger*innen dem Establishment durch ihre Wahlzettel abgerungen hatte.
2) Eine klare Ansage. Letztes Jahr hatte die Hongkonger Regierung immer wieder betont, dass auch die geschätzt eine Million Demonstrierende nicht für die „schweigende Mehrheit“ sprechen würden. Das amtlich anerkannte Ergebnis der Wahlen war der Gegenbeweis. Für die Legislativwahlen wollten viele ein noch deutlicheres Zeichen setzen. Schon im Januar verteilten Aktivist*innen auf Protesten Formulare, um Leute anzuhalten, sich rechtzeitig (drei Monate vor der Wahl) zu registrieren. Ein Wahlsieg der pro-demokratischen Kräfte wäre ein klares Zeichen gewesen, wo die öffentliche Meinung steht.
3) Carrie Lam das Leben schwer machen. Der vielleicht wichtigste Grund: Mit einer Mehrheit im Legislativrat erlangt man auch echte Macht – zum Beispiel, Gesetzesentwürfe der Regierung wie das jährliche Budget zu blockieren oder abzulehnen oder Untersuchungsausschüsse einzurichten. Selbst Gesetze einbringen könnten pro-demokratische Abgeordnete allerdings auch mit einer Mehrheit wohl nicht, da sie hierfür die Zustimmung der Regierungschefin Carrie Lam bräuchten.
Warum sollte dieses Jahr anders sein?
Eine pro-demokratische Mehrheit ist schwierig, aber nicht unmöglich. Dieses Jahr wollten pro-demokratische Politiker*innen die politische Energie der Proteste nutzen, um erstmals eine Mehrheit im Legislativrat zu erlangen. Außerdem hatten sie eine neue Strategie: Statt einander die Stimmen wegzunehmen, sollten in jedem Bezirk nur so viele pro-demokratische Kandidat*innen antreten, wie es Sitze gibt. Hierfür organisierte eine Koalition im Juli eine informelle Vorwahl, durch die die beliebtesten Kandidat*innen bestimmt werden sollten. Tausende wählten an den zwei Tagen, in Wahllokalen an merkwürdigen Orten wie einem Bus oder einem Unterwäscheladen – wirklich ein Fest der Demokratie. In einem Wahllokal beaufsichtigte sogar eine Katze den Vorgang:
Doch dann kam alles ganz anders.
Am 31. Juli verschob die Hongkonger Regierung die Wahlen um ein Jahr und verlängerte damit auch die Dienstzeit des aktuellen Parlaments – wodurch die Regierung die Mehrheit in der Legislative behält. Offizieller Grund war Corona, aber viele Hongkonger*innen fragen sich, ob es eine taktische Entscheidung war, um eine weitere Blamage der Regierung wie im November zu verhindern. Immerhin hatten pro-demokratische Kräfte im Juli eine riesige Vorwahl ausgerichtet. Ob die Verschiebung gesetzlich erlaubt war, ist umstritten, aber letztlich kann Peking das Hongkonger Grundgesetz zu seinen Gunsten interpretieren. Die aktuelle Legislaturperiode endete offiziell am 30. September und einige pro-demokratische Abgeordnete boykottieren seitdem das in ihren Augen illegitime Parlament. Andere bleiben, um das bisschen Macht, das sie als Abgeordnete haben, bis zu den nächsten Wahlen zu nutzen. Sie sollen nun im September 2021 stattfinden.
🇹🇼
Zu Anfang müssen wir uns kurz daran erinnern, wie gut es Taiwan gerade geht: Das Leben dort ist quasi wieder normal, denn seit fünf Monaten gab es keine inländischen Fälle von COVID-19 mehr. Stattdessen existieren ziemlich strenge Regeln an den Grenzen und jede einreisende Person muss zwei Wochen in Quarantäne. Präsidentin Tsai reitet auf einem politischen Hoch, Taiwans Wirtschaft wird wohl als eine der wenigen weltweit dieses Jahr wachsen. Ein verdeckter COVID-19-Ausbruch, der wegen fehlender Tests nicht auffällt, ist in Taiwan eher unwahrscheinlich, da die Fälle in den Krankenhäusern bemerkt werden würden. Nun möchte Tsai die politischen Punkte aus ihrer erfolgreichen COVID-19-Strategie nutzen, um ein Handelsabkommen mit den USA zu schließen.
Taiwan und die USA
Auch in Taiwan wird aktuell den Beziehungen zu den USA sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet – und der Frage, wie der Inselstaat von den sich verschlechternden Beziehungen zwischen den USA und China profitieren könnte. Ihr erinnert euch vielleicht, dass Taiwan einen komplizierten internationalen Status hat (FOW-Folge 55 mit Klaus Bardenhagen zum Nachhören). Auch die USA erkennen offiziell die Volksrepublik und nicht Taiwan als das „richtige“ China an und vermeiden wie Deutschland auch einen diplomatischen Austausch mit Taiwan, der irgendwie implizieren könnte, dass sie es als eigenständigen Staat anerkennen. In den letzten drei Monaten gab es allerdings gleich zwei Besuche hochrangiger US-Politiker*innen in Taiwan: Anfang August besuchte mit Gesundheitsminister Alex Azar zum ersten Mal seit sechs Jahren ein Mitglied des US-Kabinetts Taiwan. Vor ein paar Wochen folgte dann der Besuch einer Person aus dem Wirtschaftsministerium, angeblich für Verhandlungen zu einem Handelsabkommen. Und damit sind wir bei einem der größten Thema der taiwanesischen Politik gerade: amerikanisches Schweinefleisch.
Chlorhühnchen und Ractopaminschweine
In den USA wird immer wieder die Futterzutat Ractopamin für die Fütterung von Schweinen verwendet, die in der EU und Taiwan sowohl bei inländischer Tierzüchtung als auch bei Fleischimporten verboten ist. Ein bisschen wie die Chlorhühnchen, um die es in der EU vor ein paar Jahren ging. Taiwans Importverbot für Rind- und Schweinefleisch mit Ractopaminspuren ist allerdings ein wichtiger Grund dafür, dass bisher noch kein Freihandelsabkommen mit den USA zustande kam: Die USA wollen ihre eigene Fleischindustrie fördern und sehen ein Ende des Importverbots als Vorbedingung. Das Verbot zu beenden ist aber aus zwei Gründen politisch sensibel: 1) Gesundheitsbedenken und 2) große Konkurrenz für die taiwanesische Schweinefleischindustrie, die viel politischen Einfluss hat. Für eine Zusammenfassung der Debatte zu Punkt 1) empfehle ich einen Blick auf die Darstellung der Ractopaminschweine durch die Oppositionspartei KMT (siehe Tweet unten) und diesen Artikel bei New Bloom.
Die taiwanesische Fleischindustrie ist so einflussreich, dass es sogar sein könnte, das Tsais eigene Partei DPP, die eine Mehrheit im Parlament hat, sie daran hindert, das Importverbot aufzuheben. 2012 hatte die Regierung ihres Vorgängers Ma das gleiche Problem, als es den Import von Rindfleisch mit Ractopaminspuren erlaubte, um ein Handelsabkommen mit den USA zu ermöglichen. Es gab schon damals Proteste aus der Landwirtschaft. Allerdings ist Rind- eine deutlich kleinere Industrie als Schweinefleisch. Offiziell soll der Import von Schweinefleisch mit Ractopaminspuren ab Januar 2021 möglich sein.
Politisch könnte diese Entscheidung Tsai enorm schaden: Sie wird schon jetzt von der Oppositionspartei KMT instrumentalisiert, die seit ihrer Niederlage im Januar mit den niedrigsten Umfrageergebnissen seit langer Zeit zu kämpfen hat. Auch weitreichende Proteste aus der Landwirtschaft könnten zu einem politischen Problem für ihre Partei werden. Wir werden sehen, ob der weltweit einzigartige Erfolg bei der Bekämpfung von COVID-19 ausreicht, um diese negativen Folgen abzufedern. Tsai riskiert also hohe politische Kosten, um langfristig ein Freihandelsabkommen mit den USA zu ermöglichen.
Warum will Tsai ein Freihandelsabkommen?
Auch bei den Wahlen im Januar 2020 ging es in Taiwan maßgeblich um Handel (eine Zusammenfassung von mir aus dem August 2019). Sollte Taiwan weiterhin auf ein hohes Handelsvolumen mit China setzen oder sich wirtschaftlich neu orientieren? Tsai Herausforderer Han Kuo-yu versprach Reichtum durch enge Handelsbeziehungen zu China. Tsais Regierung hingegen steht für eine Neuorientierung weg von China, hin zu Südostasien und nun auch zu den USA. Weniger wirtschaftliche Abhängigkeit von China bedeutet langfristig auch weniger Anfälligkeit für politischen Druck aus der Volksrepublik, die Taiwan immer noch gerne direkt kontrollieren würde und als Teil ihres Territoriums für sich beansprucht.
Außerdem könnte Taiwan sich durch das Ende des Importverbots viel guten Willen in der US-amerikanischen Landwirtschaft erkaufen und so die Beziehung zu den USA weiter stärken. Die wiederum ist zentral für Taiwans Sicherheitspolitik, denn die Unterstützung des US-Militärs ist der Hauptgrund für China, nicht einfach zu versuchen, den sehr viel kleineren Inselstaat mit Gewalt einzunehmen.
(Quellen: Besonders dieser sehr gute Thread von Politikwissenschaftler Kharis Templeman, der in Stanford zu Taiwan forscht, sowie dieser Artikel von Brian Hioe von 2016. Danke an Lev Nachman für den Themenvorschlag!)
Danke!
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