Willkommen zur neunzehnten Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter lesenswert findet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:
Rückblick. Was für Wochen. Ein wichtiger Blick geht diese Woche nach Hongkong, wo in den letzten Wochen eine Nachricht nach der anderen auf die immer weiter schwindenden politischen Freiheiten der Stadt hinwies. Die größte Nachricht ist hier natürlich das Nationale Sicherheitsgesetz, das in Peking verabschiedet werden soll und für viele ein klares Ende von „Ein Land, zwei Systeme“ bedeutet. Aber auch davor gab es schon kleinere Zwischenfälle, wie die Absetzung einer Satiresendung im öffentlich-rechtlichen Sender RTHK, die zu kritisch über die Hongkonger Polizei gesprochen hatte. So viel zum Thema Pressefreiheit. In China findet währenddessen der Nationale Volkskongress statt und die Beziehungen mit den USA verschlechtern sich weiter. In Taiwan wurde Tsai Ing-wen nach ihrem Wahlsieg im Januar nun offiziell in ihre zweite Amtszeit eingeweiht.
—Katharin & Nils
Follow-up. Im Herbst hatten wir kurz über die 39 Toten in einem LKW in Großbritannien berichtet, die am Anfang für chinesische Migrant*innen gehalten wurden. Schnell stellte sich heraus, dass sie zwar (gefälschte) chinesische Pässe hatten, aber alle aus Vietnam kamen. Nun haben Khuê Phạm und Vanessa Vu bei der ZEIT eine Reportage über eines der Opfer veröffentlicht – und über ihre Zwillingsschwester, die jetzt in Spanien lebt. Wir empfehlen die Reportage in Gesamtlänge sehr! Die englische Übersetzung gibt es ohne Paywall.
🇨🇳
Zwei Treffen in Peking. Seit Freitag finden in Peking die Zwei Treffen statt, die jährliche Sitzung der chinesischen Legislative. Wegen COVID-19 wurde sie aus dem März verschoben. Dass die Zwei Treffen nun mit persönlicher Anwesenheit von Abgeordneten aus allen Teilen des Landes abgehalten werden, zeigt, dass die KP die COVID-19-Situation als einigermaßen unter Kontrolle ansieht. Dennoch gibt es zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen, um zu verhindern, dass die Delegierten einander oder gar das Politbüro anstecken. Sha Hua, die letzten Sommer bei uns im Podcast den Handelskrieg erklärt hat, hat einige dieser Maßnahmen zusammengefasst:
Was war bisher wichtig? Der Volkskongress wird die Grundlage für ein Gesetz zur Nationalen Sicherheit in Hongkong beschließen, das de facto an der Hongkonger Legislative vorbei eingeführt werden wird (s. unten). Dass das Gesetz in Peking beschlossen wird, ist für viele ein Zeichen, dass die Illusion Hongkonger Autonomie vorbei ist. Außerdem: Die chinesische Regierung setzt erstmals seit 1994 kein offizielles Ziel für das diesjährige Wirtschaftswachstum, vermutlich wegen des Einbruchs durch COVID-19. Außerdem hat Li Keqiang in seiner großen Rede als Erster Premier seit Jahrzehnten nicht von einer „friedlichen Wiedervereinigung“ mit Taiwan, sondern nur von einer „Wiedervereinigung“ gesprochen – und hält sich so weitere Optionen offen. Außerdem gibt es Zeichen, dass die Regierung die Kampagne für die Ehe für alle in China delegetimieren möchte. Es wird also wohl keine entsprechende Gesetzesänderung auf dem Treffen geben.
„Die aktuelle Situation.“ Nur in Kürze, da COVID-19 in China mittlerweile wirklich eher ein Nebenschauplatz geworden ist.
Massentests. Nach einem neuen COVID-19-Fall in Wuhan soll in den nächsten Wochen nach und nach die gesamte Stadt durchgetestet werden, um sicherzugehen, dass es keinen unsichtbaren COVID-19-Ausbruch mehr gibt. Aktuell kann Wuhan pro Tag scheinbar fast 900.000(!) Tests durchführen. Expert*innen halten die Maßnahme für übertrieben und ineffizient. Manche Leute weisen darauf hin, dass die neuen Fälle in Wuhan einfach das Ergebnis von falsch-positiven Tests sein könnten, die es bei allen COVID-19-Tests gibt, wenn nur genug Leute getestet werden.
Nordchina. Auch der „Ausbruch“ in Nordchina geht weiter, also z.B. so ein dutzend Fälle in der Stadt Shulan. Das hat die Regierung zum Anlass für einen neuen Lockdown in der Stadt genommen, bei dem u.a. Wohnkomplexe nur noch Anwohner*innen reinlassen und Ein- und Ausgang aus dem Komplex beschränkt werden; Schulen und öffentlicher Nahverkehr sind zu. Auch interessant: Apotheken dürfen keine fiebersenkenden Mittel verkaufen, damit Leute mit einem Fieber zum Krankenhaus gehen, anstatt es zuhause auszusitzen und vielleicht andere anzustecken.
Untersuchung. Australien und einige andere Länder, darunter Deutschland, haben in der WHO zu einer unabhängigen Untersuchung zu den Ursprüngen der Pandemie aufgerufen. Die Resolution wurde abgeschlossen, u.a. auch mit Unterstützung Chinas. Warum unterstützt China die Untersuchung? Vermutlich, da sie erst nach dem Ende der Pandemie stattfinden soll, von der WHO geleitet wird, in der China relativ einflussreich ist, und „ganzheitlich“ sein soll, sich also vermutlich nicht nur auf China konzentrieren wird. Ob das bedeutet, dass China eine Untersuchung in China zulassen wird, ist unklar.
USA geht gegen chinesische Journalist*innen vor. Nach der Reihe von Journalist*innen mit US-Pass musste nun auch Chris Buckley, ein australischer Chinakorrespondent der New York Times, China verlassen. Seit Beginn des Jahres hat das Land fast 20 ausländische Korrespondent*innen rausgeworfen, die meisten davon US-Bürger*innen, und mehreren chinesischen Angestellten bei ausländischen Medien ihre Arbeitserlaubnis entzogen. Die Trump-Regierung dachte sich nun wohl „Das können wir auch!“ und hat eine neue Regel eingeführt, die es chinesischen Staatsbürger*innen verwehrt, I-Visa für mehr als 90 Tage zu bekommen. Diese Regel betrifft chinesischen Staatsbürger*innen, die in den USA für nicht-amerikanische Medien arbeiten, z.B. die unabhängige chinesische Publikation Caixin, oder Medien wie die Financial Times und die BBC. Bisher hatten die Maßnahmen in den USA nur chinesische Staatsmedien getroffen – ein guter Look ist auch das nicht, aber lässt sich durchaus begründen.
Dass es jetzt auch unabhängige Journalist*innen trifft, nur basierend auf ihrer Nationalität, ist verstörend. Es verstärkt auch das Dilemma, in dem sich viele chinesische Journalist*innen wiederfinden: In China werden sie zensiert, wenn sie für chinesische Medien arbeiten, oder dürfen nur als „Assistent*innen“ angestellt werden, wenn sie für ausländische Medien arbeiten. Viele von ihnen sind mit einer Vorstellung vom Land der Demokratie und Pressefreiheit in die USA gekommen, in der Hoffnung, dort richtig journalistisch arbeiten zu können. Stattdessen müssen sie sich mit feindseligen Visaregeln herumschlagen, sich als Propagandist*innen beschimpfen lassen und nun alle drei Monate um ihr Visum bangen. Die Gruppe Chinese Storytellers hat Reaktionen auf die neuen Beschränkungen für chinesische Journalist*innen in den USA zusammengestellt, die ich allen in Gesamtlänge ans Herz legen würde.
Neue Folge zu chinesischem Journalismus. Passend zum Thema geht es in unserer aktuellen Podcast-Folge mit der chinesischen Journalistin Shen Lu um chinesischen Journalismus: was wir alles dank der investigativen Arbeit chinesischer Journalist*innen über das Coronavirus wissen und wie prekär die Situation der „Assistent*innen“ bei ausländischen Medien in China ist. Bei Interesse gibt es außerdem einen Überblick über die chinesische Medienlandschaft von Jin Ding.
US-chinesische Beziehungen verschlechtern sich weiter. Am 15. Mai verkündete das Handelsministerium eine neue Regel, die Huawei den Zugang zu wichtigen Halbleitern aus Taiwan verwehren soll. Es gibt gerade noch rechtliche Fragen, aber die Intention der Regel ist eindeutig. Nachdem Trump Huawei letztes Jahr schon von Google-Produkten abgeschnitten hat, könnte diese neue Regel Huawei daran hindern, seine 5G-Basisstationen zu bauen oder weiter im Smartphone-Geschäft erfolgreich zu sein – vorausgesetzt, die USA lösen das rechtliche Dilemma. Außerdem hat die US-Regierung eine Reihe weiterer chinesische Firmen auf die sogenannte Entitätsliste gesetzt. Dabei handelt es sich um eine Art schwarze Liste, die es diesen Firmen erschwert, Produkte oder Zulieferungen aus den USA zu beziehen. Bei Interesse an einem Überblick hatten wir letzten Sommer eine Folge zum Handelskrieg mit der damaligen Handelsblatt-, jetzt Wall Street Journal-Korrespondentin Sha Hua aufgenommen.
Arbeiter*innenrechte in China. Wir hatten schon öfters darüber geschrieben, dass der Lockdown wegen COVID-19 in China besonders Menschen im Niedriglohnsektor trifft. Eine Gruppe von Menschen, die auch in diese Kategorie fallen, sind Wanderarbeiter*innen: Sie haben in den letzten Jahrzehnten maßgeblich zu Chinas Wirtschaftswachstum beigetragen, aber arbeiten oft in sehr prekären Situation. Sie sind auch Teil einer Art Zweiklassengesellschaft durch Chinas Hukou-System, bei dem Leute je nach Haushaltsregistrierung (quasi eine nur sehr schwer zu ändere Meldeadresse) unterschiedliche Rechte auf öffentliche Dienste haben. Wanderarbeiter*innen sind oft nicht in den Städten registriert, in denen sie arbeiten, da diese Hukous oft sehr schwer zu bekommen sind. Das bedeutet z.B., dass sie nur begrenzten Zugang zum Gesundheitssystem haben oder ihre Kinder nicht auf öffentliche Schulen schicken können. Als ich 2011/12 Fremdsprachenassistentin an einer Schule in Shanghai war, hatte ich viele solcher Schüler, die niemals eine Chance haben würden, zur Uni zu gehen, weil sie die Kinder von Wanderarbeiter*innen in der Stadt waren – sie waren nicht einmal berechtigt, das Äquivalent des Abiturs abzulegen. Dexter Roberts beschreibt, wie viele dieser Wanderarbeiter*innen von der Pandemie betroffen sein könnten und warum sie in den Städten nicht unbedingt willkommen sind. Außerdem eine gute Nachricht: China hat fünf Arbeitsrechtsaktivisten im Süden des Landes nach mehr als einem Jahr aus der Haft entlassen.
Zum Abschluss etwas Aufbauendes. Ein Video auf der chinesischen Plattform Bilibili, dass die einfachen Chines*innen in den Mittelpunkt stellt, die geholfen haben, COVID-19 zu besiegen. Mittendrin ist eine Abschiedsbotschaft an Li Wenliang versteckt, die Partei sieht man nirgendwo. Es gibt Szenen von Leuten mit Mundschutz in der U-Bahn, Krankenhausangestellten in voller Schutzmontur beim Musikmachen, Lieferant*innen, die bei widrigen Bedingungen Essen im ganzen Land ausleifern, einer Frau, die an einer Viruskontrollstation eingeschneit wird, und Chines*innen, die zuhause festsitzen und tanzen. In der Mitte sieht man Szenen von Krankenpfleger*innen, die aus Hubei (Erinnerung: die Provinz, in der Wuhan liegt) in ihre Heimat zurückkehren.
🇭🇰
Festnahmen seit Juni 2019: 8.345 (Stand: 19.05., 393 seit dem letzten Newsletter)
Davon angeklagt: 1.351 (Stand: 19.05., 184 seit dem letzten Newsletter)
Proteste seit März 2019: mindestens 1.039 (Stand: 19.05., 39 seit dem letzten Newsletter)
Bei den Festnahmen fehlen mindestens 120 weitere Festnahmen vom Sonntag.
Es waren ein paar dunkle Wochen in Hongkong mit vielen schlechten Nachrichten für die Demokratiebewegung und die Stadt als solche. Die wichtigste Nachricht zuerst:
Sicherheitsgesetz für Hongkong aus Peking. Auf den „Zwei Treffen“ hat der Nationale Volkskongress angekündigt, ein Nationales Sicherheitsgesetz für Hongkong zu verabschieden. Das Gesetz wird wohl effektiv das Hongkonger Parlament umgehen und nach aktuellem Wissensstand Terrorismus, ausländische Interventionen, Sezession und Subversion strafbar machen soll. Eigentlich hat Hongkong Autonomie über alles außer Außenpolitik, doch nachdem die chinesische Regierung seit Monaten vom Einfluss „ausländischer Kräfte“ und Terrorismus in Hongkong spricht, benutzt sie nun die gleiche Rhetorik, um ein Gesetz für die Stadt zu verabschieden. Die genaue Implementierung bleibt offen, aber für viele ist klar: Ein Land, zwei Systeme ist damit endgültig vorbei. Die Hongkonger Regierung unter Carrie Lam hat angekündigt, voll mit der Regierung in Peking zu kooperieren, scheint aber auch keine weiteren Details zu diesem Gesetz zu kennen.
Am Sonntag gab es bereits eine erste Runde (illegaler) Proteste gegen das Gesetz, bei dem junge und alte Leute nach dem Prinzip „Sei Wasser!“ immer wieder der Polizei und ihrem Tränengas auswichen und dennoch mehr als 120 festgenommen wurden. Fürs Erste hat Wilfred Chan hier eine Art Abschiedsbrief an die Stadt geschrieben, wie er sie kennt und liebt. Seit Monaten reden Hongkonger*innen davon, dass sie sich nicht einmal vorstellen können, wie ihre Stadt in wenigen Wochen oder gar Monaten aussehen wird – nun hat die KP in Peking dafür eine Antwort gefunden. Wilfred Chan: „Verloren ist das Gefühl, dass die Zukunft Hongkongs noch eine offene Frage ist.“ Es kommen harte Zeiten auf Hongkong zu.
Weitere Zeichen der langsam verschwindenden politischen Freiheit in Hongkong:
Bildungssystem. Die diesjährige Abschlussprüfung für Hongkonger Schulen provozierte mit einer Aufgabe im Geschichtsteil: „Diskutiere: Japan hat für China zwischen 1918 und 1945 mehr Gutes als Schlechtes getan.“ Die Frage löste einen Shitstorm bei pro-chinesischen Kräften aus, sie habe die Gefühle des chinesischen Volkes verletzt. Letztendlich wurde sie im Nachhinein aus der Klausur genommen. Es folgten Rücktritte aus Protest im Hongkonger Bildungsministerium und ein Protestbrief von Mittelschülern. Passend zum Thema wird nun auch eine Reform der Hongkonger Bildungssystems diskutiert, das junge Menschen radikalisiert habe. 2012 war es eine andere Bildungsreform, die u.a. Joshua Wong zum Aktivisten machte.
Polizeigewalt. Die IPCC hat endlich ihren Bericht zur Polizeigewalt veröffentlicht. Wir erinnern uns: Die Behörde wird von Demonstrierenden als zahnlos und regierungstreu verurteilt, mehrere internationale Expert*innen haben das Kommittee in der Vergangenheit bereits verlassen. Nun findet ein erster Bericht überraschenderweise keinerlei Fehlverhalten der Polizei in den letzten Monaten und schiebt die Schuld für jegliche Gewalt auf die Demonstrierenden. Für eine Gegendarstellung empfehle ich diese sorgfältige Analyse zahlreicher Momente, in denen die Hongkonger Polizei ihre eigenen Regeln zum Einsatz von Gewalt verletzt hat.
Satire. Wir hatten in den letzten Wochen immer wieder über den öffentlich-rechtlichen Sender RTHK geschrieben, der sich durch seine wahrheitsgemäße Berichterstattung zu den Protesten und seine Satiresendung „Headliner“ immer wieder den Zorn der Hongkonger Regierung zugezogen hatte. Am 19.05. wurde angekündigt, dass „Headliner“ zum Ende der aktuellen Staffel offiziell abgesetzt wird. Damit ist zumindest dieses Satireformat in Hongkong endgültig tot.
Erste Verurteilung für Aufstand. Anfang Mai gab es die erste Verurteilung eines Demonstranten wegen „Aufstands“ – ein vage definierter Tatbestand aus der britischen Kolonialzeit, auf den es bis zu zehn Jahre Haft gibt. Der Demonstrant hatte sich schuldig bekannt und wurde zu vier Jahren Haft verurteilt.
Parlament. Nachdem es zu teils körperlichen Auseinandersetzungen gekommen war, wurde pro-Regierungspolitikerin Starry Lee zur Vorsitzenden des Hauskommittees im Hongkonger Parlament gewählt. In den letzten Monaten hatten demokratische Politiker*innen, die bisher den Vorsitz inne hatten, das Kommittee immer wieder blockiert, u.a. um ein Gesetz gegen die Verspottung der chinesischen Nationalhymne zu verhindern.
Nächste Woche. In den kommenden Tagen soll das Hongkonger Parlament die zweite Lesung eines Gesetzes zur Nationalhymne abschließen. Das Gesetz würde es strafbar machen, die chinesische Nationalhymne zu verändern oder sie in abwertender Weise abzuspielen.
Mehr Proteste. Gleichzeitig gehen auch die Proteste und die Polizeigewalt weiter. Oft wird in Einkaufszentren gesungen und Polizei in voller Aufmachung sind auch wieder Teil der täglichen Nachrichtenbilder aus Hongkong. Am Muttertag, dem 9. Mai, wurde ausgerechnet ein 13-jähriger Schülerjournalist auf einem dieser Proteste erst von der Polizei gezielt angemeckert und dann festgenommen. Am Ende des Tages tauchte der Junge in mehreren Bildern im Netz auf, zusammen mit der Frage: „Wer hat hier Angst vor wem?“ (s. unten) Allein am 11. Mai, als einige Demonstrierende wieder auf die Straße gingen, wurden 230 Leute festgenommen, Journalist*innen drangsaliert und ein Parlamentarier von der Polizei verletzt. Dass die meisten dieser Ereignisse es nicht einmal mehr in die Schlagzeilen schaffen, zeigt auch, wie sehr sie zum neuen Normalzustand in Hongkong gehören.
„Die aktuelle Situation.“ Auch in Hongkong ist COVID-19 quasi aus den Nachrichten verschwunden. Am 13.05. gab es den ersten bestätigten Fall seit Wochen, was für etwas neue Unruhe sorgte, da niemand weiß, wo die Patientin sich angesteckt haben könnte. Der Fall kam für viele wie aus dem Nichts. Auch das Hongkonger Kontaktverbot wurde offiziell ausgeweitet – ausgerechnet bis zum 4. Juni, an dem in Hongkong normalerweise eine große Gedenkveranstaltung für das Tiananmen-Massaker stattfindet. Dieses öffentliche Gedenken wäre dieses Jahr durch das Kontaktverbot erstmals illegal.
🇹🇼
Amtseinführung Tsai Ing-wen. Nach ihrem Wahlsieg im Januar wurde Tsai Ing-wen letzte Woche offiziell für ihre zweite Amtszeit eingeweiht. Sie bekam u.a. eine Gratulation von US-Außenminister Pompeo, die wiederum von China heftig kritisiert wurde. Die Regierung in Peking erkennt die Regierung in Taipei nicht als rechtmäßige Regierung Taiwans an, sondern beansprucht diesen Status für sich selbst. Nach China gerichtet sagt Tsai in ihrer Rede: „Beziehungen befinden sich an einem historischen Wendepunkt. Beide Seiten haben die Pflicht, Wege zu finden, um langfristig zu koexistieren und die Intensivierung der Feindseligkeit und Unterschiede zu verhindern.“
„Die aktuelle Situation.“ Der letzte Fall mit inländischer Übertragung von COVID-19 in Taiwan wurde am 22. April gefunden. Damit hat Taiwan heute mehr als vier Wochen ohne neue bestätigte COVID-19-Fälle hinter sich und bewegt sich langsam wieder auf eine Art Alltag zu. Einige meiner Freund*innen vor Ort waren letztes Wochenende sogar schon wieder in Clubs feiern.
Die Abstimmung, die nicht stattfand. Taiwans Ärger mit der WHO, an der der Inselstaat nicht einmal als Beobachter teilnehmen darf, zieht sich jetzt schon seit Wochen hin. Dank der vorbildlichen Reaktion auf COVID-19 ist Möglichkeit einer taiwanesischen Teilnahme nun wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Kurz sah es so aus, als würde am 18. Mai eine Abstimmung stattfinden, die Taiwan zumindest Beobachterstatus in der World Health Assembly, dem Plenum der WHO, verschaffen könnte. Die Abstimmung wurde jedoch in letzter Minute von Taiwan selber abgesagt – vermutlich, weil klar war, dass sie nicht genug Stimmen hatten, um die Abstimmung zu gewinnen. Die Abstimmung wäre ein interessantes Stimmungsbarometer gewesen, um zu sehen, welche Länder bereitwillig gegen die von China bevorzugte Position gestimmt hätten. Beobachterstatus hatte Taiwan zuletzt von 2009 bis 2016 inne, als es relativ gute Beziehungen mit dem Festland hatte. Eine Überblick über Taiwans komplizierten Status gab es kürzlich bei uns im Podcast mit dem Journalisten Klaus Bardenhagen.
Sitzen im Hauptbahnhof? Verboten. Seit Februar gibt es wegen COVID-19 in Taipei eine Regel gegen Ansammlungen oder auf-dem-Boden-sitzen im Hauptbahnhof von Taipei. Es wurde nun angekündigt, dass diese Regel trotz der deutlich besseren Situation weiterhin gelten soll, was stark kritisiert wurde. Auch in Taiwan gibt es viele Wanderarbeiter*innen aus Südostasien, die sich in der Station oft an ihren freien Tagen oder zum Feiern von Eid al-Fitr treffen. Die Maßnahme soll sie vermutlich von der Station fernhalten, da es auch in Taiwan gegen dieser Wanderarbeiter*innen, die wichtiger Teil der taiwanesischen Wirtschaft sind, viele negative Vorurteile gibt. Letzte Woche gab es daher einen ersten Protest gegen die neue Regel, bei dem auch zu Solidarität mit Hongkong aufgerufen wurde.
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