Willkommen zur 27. Ausgabe des Fernostwärts Newsletters! Nach dem Lesen des Newsletters solltet ihr über die wichtigsten Ereignisse der letzten zwei Wochen in Bezug auf China, Hongkong und Taiwan Bescheid wissen und für interessierte Leute mit Zeit gibt es Links zur weiteren Lektüre. Falls ihr diesen Newsletter lesenswert findet, leitet ihn gern an Freund*innen weiter! Feedback oder Fragen gerne per Mail oder auf Twitter. Falls ihr den Newsletter noch nicht regelmäßig bekommt:
Rückblick. Frohes Neues! Statt zwei Wochen geht es in diesem Newsletter mal wieder um einen ganzen Monat – der Dezember war busy und Katharin hat viel anderweitig geschrieben, seit sie in Taiwan ist. Dieser Tage ist es besonders merkwürdig, in unser Archiv zu schauen und zu lesen, worüber wir vor einem Jahr geschrieben haben: Damals hat Katharin erst die Wahlen in Taiwan begleitet, dann die sich langsam entfaltende Tragödie in Wuhan aus der Ferne mitverfolgt. Damals haben wir u.a. Ende Januar eine erste Zusammenfassung der Situation versucht und zwei Wochen später über die Empörung und den Protest nach dem Tod des Augenarztes Li Wenliang berichtet. Ein Jahr später steht die chinesische Regierung hingegen sehr gut da, da selbst ihre Fehltritte im Vergleich zur Katastrophe im Rest der Welt bei vielen Chines*innen letztendlich zu mehr statt weniger Vertrauen geführt haben. Gleichzeitig gibt es zunehmend Berichte, besonders von AP, die Licht auf neue Aspekte des COVID-19-Ausbruchs in China werfen und was damals wirklich alles schiefgelaufen ist. In Hongkong gehen unterdessen die Festnahmen weiter und in Taiwan gab es ersten lokal übertragenen Fall von COVID-19 seit April 2020.
—Katharin & Nils
🇨🇳
COVID-19: Ein Jahr später. In den letzten Wochen hat die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) mehrere Berichte über die frühen Tage des COVID-19-Ausbruchs veröffentlicht und hier wirklich hervorragende investigative Arbeit geleistet: Ende November berichtetet Dake Kang, wie ganz zu Anfang des Ausbruchs Korruption und die engen Beziehungen mancher Pharmafirmen zur Regierung wohl Schuld an einer künstlich geschaffenen Knappheit von COVID-19-Tests waren. Pünktlich zum Ende des Jahres hat AP basierend auf geleakten Dokumenten außerdem berichtet, wie die chinesische Regierung wohl seit einigen Monaten systematisch die Veröffentlichung von Informationen aus der chinesischen Forschung zu den Ursprüngen des Virus verhindert: In ganz China laufen Forschungsprojekte, die versuchen, herauszufinden, wo COVID-19 nun wirklich herkommt – aber wir wissen nur, dass es sie gibt, nicht, was für Ergebnisse sie bisher hervorgebracht haben. Alles politisch sensible Informationen.
Diese Richtlinien erklären eventuell auch, warum es bisher nur spärliche Informationen zu den chinesischen Impfstoffen gibt, die gerade u.a. in der Türkei getestet werden. Sie in China zu testen, macht keinen Sinn, da COVID-19 hier nicht weit genug verbreitet ist, um in einer Phase-3-Studie wirklich festzustellen, ob die Impfung vor COVID-19-Infektionen schützt. Kurz vor Silvester wurde der erste Impfstoff auch in China offiziell zugelassen – entwickelt wurde er von Sinopharm, einer staatlichen Firma. Auch eine Erinnerung wert: Vor über einem Jahr, am 30. Dezember 2019, warnte Dr. Li Wenliang ehemalige Kommiliton*innen in einer WeChat-Gruppe, dass in seinem Krankenhaus in Wuhan mehrere Patient*innen mit SARS-ähnlichen Symptomen aufgetaucht waren. Am 3. Januar 2020 wurde er von der Polizei gerügt, wenige Wochen später starb er selbst an COVID-19 und löste in ganz China eine Wellen des digitalen Protests aus.
Auch dieses Jahr gibt es wieder Reisebeschränkungen, die einige Chines*innen daran hindern werden, das neue Mondjahr wie gewohnt mit ihrer Familie zu feiern: In der Provinz Hebei in Nordchina gibt es einen neuen Ausbruch des Coronavirus (etwas über 100 Fälle aktuell), woraufhin Teile der Provinz direkt wieder in einen richtigen Lockdown geschickt, Millionen von Menschen auf COVID-19 getestet und auch Leute in anderen Provinzen davor gewarnt wurden, für das wichtigste Familienfest des Jahres quer durchs Land zu reisen.
Investitionsabkommen EU-China. Die EU und China haben sich in den letzten Tagen des Jahres 2020 auf ein bilaterales Handelsabkommen geeinigt.
Kritik: Das Handelsabkommen ist politisch umstritten, da Chinakritiker*innen wie Reinhard Bütikhofer der EU vorwerfen, sich in der Beziehung rein profitorientiert zu verhalten und der chinesischen Regierung einen wirtschaftlichen Sieg zu ermöglichen, während in Westchina geschätzt tausende Uigur*innen in Lagern sitzen und manche von ihnen gar als Zwangsarbeiter*innen eingesetzt würden. Das Abkommen enthält eine Klausel, derzufolge die chinesische Regierung sich bemühen und darauf hinarbeiten werde, internationalen Standards für faire Arbeitsbedingungen gerecht zu werden, insbesondere der Abschaffung von Zwangsarbeit.
USA-Reaktionen: Viele Beobachter*innen in den USA kritisieren die EU dafür, eine vereinte transatlantische Front im Hinblick auf China durch das Handelsabkommen zu verhindern. Andererseits hat es unter Trump wenig konstruktive Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA im Bezug auf China gegeben (s. auch unsere Podcastfolge zur US-chinesischen Beziehung mit Graham Webster).
Warum? Das Abkommen soll europäischen Firmen den Zugang zum chinesischen Markt erleichtern, u.a. durch das Ende der Pflicht, in China nur in Kooperation mit einer chinesischen Firma zu operieren, Transparenz bei staatlichen Förderungen für Unternehmen, und Regeln, die erzwungenen Technologietransfers verhindern. Einige dieser Zugeständnisse hatte die chinesische Regierung bereits für Firmen aus den USA gemacht.
Nach der Haft. Ich habe in der Vergangenheit schon mehrfach die Aktivist*innen Lu Yuyu und Li Tingyu erwähnt, die zwischen 2013 und 2016 akribisch Daten über Proteste in China zusammentrugen – einmal im Zusammenhang mit Arbeiterstreiks und erst vor ein paar Wochen anlässlich eines mittelständischen Protests in Peking. Beide sind mittlerweile aus der Haft entlassen und das WSJ hat Lu Yuyu interviewt, der vier Jahre absitzen musste, und in dieser Zeit auch von seiner Freundin und Partnerin Li Tingyu verlassen wurde.
Mr. Lu is comforted by his work documenting tens of thousands of protests, even if he can’t return to that role. “I’d just end up in jail again,” he said. “You can tell people how brave you are, but in reality you wouldn’t achieve anything.”
Außerdem in dem Zusammenhang kurz notiert: Im Dezember wurden in Peking scheinbar unabhängig voneinander erst Haze Fan, eine chinesische Mitarbeiterin von Bloomberg, und dann Du Bin festgenommen, ein chinesischer Fotojournalist, der viel für die New York Times gearbeitet hatte, bevor die Publikation aus China ausgewiesen wurde. Chinesische Mitarbeitende sind wichtige Mitglieder jedes ausländischen Newsrooms in China, dürfen aber offiziell nicht als Journalist*innen dort angestellt werden. Sie machen unheimlich wichtige Arbeit, aber sind als chinesische Staatsbürger*innen auch dem größten Risiko ausgesetzt, wie diese Festnahmen mal wieder zeigen. Wir hatten ihre prekäre Position in etwas mehr Details in unserer Podcastfolge zu chinesischem Journalismus mit der Journalistin Shen Lu besprochen.
#MeToo zieht vor Gericht. Auch in China gibt es feministischen Aktivismus und eine MeToo-Bewegung, in deren Rahmen u.a. Professoren, berühmte NGO-Aktivisten und Männer in der Entertainment-Industrie sexueller Belästigung beschuldigt wurden. Ich hatte schon vor einigen Jahren darüber geschrieben, dass die Bewegung sowohl gesellschaftliche als auch politische Hürden überwinden muss, da jeglicher Aktivismus in China als „politisch“ abgestempelt werden kann. Ein Erfolg der Bewegung war eine verschärfte Definition in Chinas neuer Version seines Zivilrechts, die 2020 verabschiedet wurde. Anfang Dezember war es dann so weit und die 27-jährige Aktivistin Xianzi sagte in Peking vor einem Gericht aus: Sie beschuldigt den bekannten Fernsehmoderator Zhu Jun der sexuellen Belästigung, als sie Praktikantin beim Sender CCTV war, und fordert von ihm eine Entschuldigung und eine finanzielle Entschädigung. Der Platz vor dem Gericht war voller Unterstützer*innen, die Xianzi nicht in die nicht-öffentliche Sitzung folgen durften, aber bis spät in die Nacht auf sie warteten, und auch Weibo war voller Solidaritätsbekundungen, die rasant in Echtzeit zensiert wurden. Bisher gibt es noch kein Urteil in Xianzis Fall.
Gleichzeitig hat die MeToo-Bewegung in Hangzhou allerdings eine Niederlage erlitten: Deng Fei, ein ehemaliger Journalist, gewann einen Fall gegen He Qian, die ihn sexueller Übergriffe beschuldigt hatte. Im Gegenzug hatte er sie wegen Verleumdung verklagt und nun gewonnen. Der SixthTone-Journalist David Paulk berichtet in einem Twitterthread über den Fall – oft kann SixthTone, das in China arbeitet, Artikel zu „sensiblen“ Themen nicht offiziell veröffentlichen. Paulk fasst die Recherche dann als Twitterthreads zusammen.
Queer in China. In unserer Dezemberfolge berichtet der chinesische Journalist Zeyi Yang von seiner Arbeit und besonders seinen Recherchen zur queeren Community in China. Es geht u.a. darum, wie gleichgeschlechtliche chinesische Paare Eltern werden können und warum und wie gleichgeschlechtliche Beziehungen in chinesischen Medien politisch sensibel sind. Wir empfehlen außerdem einen aktuellen Text von Zeyi über die Blockchain-Plattform „Matters“, die chinesischsprachigen Schreibenden einen Ort für produktiven Diskurs und auch Texte über politisch sensible Themen bieten soll.
Kurz notiert, damit der Newsletter nicht allzu lang wird:
Xinjiang. Der Forscher Adrian Zenz hat einen neuen Artikel veröffentlicht, demzufolge Teile von Chinas Baumwollindustrie Zwangsarbeit von Uigur*innen nutzen würden. Hochrelevant im Kontext des Investmentabkommens zwischen China und der EU.
Dissens. Vor einigen Monaten hat Cai Xia, eine ehemalige Professorin der Akademie der Kommunistischen Partei Chinas, für großes Aufsehen gesorgt, indem sie öffentlich Xi Jinping kritisierte und sagte, er sei schlecht für China. Sie ist nun im Exil in den USA und hat über ihre Desillusionierung mit der KP China geschrieben – die spannende Perspektive einer Person, die lange wirklich an die Ideologie der Partei geglaubt hatte.
Techindustrie. Nach zwei Selbstmorden beim Techunternehmen Pinduoduo gibt es in China erneut Kritik an den Arbeitsbedingungen der Techindustrie, auch bekannt als 996 – arbeiten von 9 bis 21 Uhr, sechs Tage die Woche.
🇭🇰
Festnahmen seit Juni 2019: 10.257 (Stand: 08.01.21)
Davon angeklagt: 2.936 (Stand: 08.01.21)
Proteste seit März 2019: mindestens 1.096 (Stand: 07.07.20)
So viele Festnahmen. Wo soll man anfangen? Die aktuelle Situation in Hongkong wird besonders deutlich, wenn man sich einfach mal vor Augen hält, wer in den letzten Wochen weswegen festgenommen oder verurteilt wurde. Viele der Personen, die nur festgenommen, aber nicht angeklagt wurden, sind durch Kaution wieder auf freiem Fuß, aber sitzen praktisch in Hongkong fest, da die Polizei oft die Pässe der auf Kaution freigelassenen einbehält. Viele der prominenten Figuren der Demokratiebewegung, die es noch konnten, haben sich in den letzten Woche ins Exil begeben. Ausnahmsweise habe ich das Alter der Festgenommenen mit aufgeschrieben, um zu zeigen, wie breit gefasst die Festnahmen der letzten Wochen waren:
2. Dezember 2020: Studentenaktivist Keith Fong (22) festgenommen für den Kauf von Laserpointern während der Proteste 2019, die Laserpointer seien Waffen.
2. Dezember 2020: Der Verleger Jimmy Lai (73) und zwei Angestellte seines Verlags Next Daily werden wegen Betrugs festgenommen und angeklagt, das Verfahren ist für April angesetzt.
3. Dezember 2020: Die Aktivist*innen Ivan Lam (26), Agnes Chow (24) und Joshua Wong (24) werden wegen Anstiftung einer illegalen Versammlung im Sommer 2019 für schuldig befunden und sitzen nun alle unterschiedlich lange Gefängnisstrafen ab.
3. Dezember 2020: Unter dem National Sicherheitsgesetz darf die Regierung sich für Verfahren zur Nationalen Sicherheit Richter aussuchen. Am 03.12. entschied einer dieser Richter, dass der Aktivist Tam Tak-chi (47), der beschuldigt wird separatistische Slogans ausgesprochen zu haben, bis zu seinem Verfahren im Mai in Haft bleibt.
3. Dezember 2020: Der pro-demokratische Politiker Ted Hui (38) geht mit seiner Familie ins Exil, konnte die Stadt durch Hilfe von Politiker*innen aus Dänemark verlassen und lebt nun erstmal in Großbritannien. Nach seiner Ankündigung wurden Bankkonten von ihm und Familie erst eingefroren, dann wieder entfroren (Dapiran zum Vertrauen in die Banken), dann erneut eingefroren. Mehr zu Hui und seiner Rolle bei den Protesten gibt es bei HKFP.
7. Dezember 2020: Acht junge Menschen werden wegen des Protests an der CUHK (s. letzte Ausgabe) festgenommen, Medienberichten zufolge ermittelt die Polizeieinheit zur Nationalen Sicherheit gegen sie u.a. wegen des Rufens „subversiver Slogans“. Unter den Festgenommenen sind mehrere pro-demokratische Lokalpolitiker (u.a. Arthur Yeung Tsz Chun (25)).
8. Dezember 2020: Acht pro-demokratische Politiker werden festgenommen wegen Verdachts auf Organisation einer illegalen Versammlung am 1. Juli 2020, darunter sind bekannte Gesichter wie der ehemalige Abgeordnete Eddie Chu (43).
9. Dezember 2020: Agnes Chows Antrag, auf Kaution freizukommen, während die Berufung gegen ihre Gefängnisstrafe läuft, wird abgelehnt.
11. Dezember 2020: Der Aktivist Tony Chung (19) wird wegen Flaggenbeleidigung im Mai 2019 zu vier Monaten Haft verurteilt und sitzt nun im Gefängnis, gegen ihn gibt es vier weitere laufende Verfahren. Er wurde im November auf dem Weg zur US-Botschaft festgenommen, in der er um politisches Asyl bitten wollte.
11. Dezember 2020: Verleger Jimmy Lai (73) wird nun zusätzlich wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit durch Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften angeklagt, Grund sind wohl seine öffentlichen Bitten an die USA, Sanktionen gegen China auszusprechen. Das Gericht verweigert ihm, bis zum Verfahren auf Kaution freizukommen. Auf eine Berufung hin darf er kurz raus (darf aber nicht mit Medien sprechen oder twittern) und muss nach einer weiteren Berufungsrunde wenige Tage später zurück ins Gefängnis und bleibt bis zum Verfahren im Februar endgültig in Haft.
12. Dezember 2020: Medien berichten, dass der ehemalige Abgeordnete Sixtus Baggio Chung-hang Leung (34) sich freiwillig ins Exil in die USA begeben hat.
16. Dezember 2020: Der Pastor Roy Chan verlässt die Stadt und begibt sich ins Exil, seine Konten und die seiner Kirche werden von der Hongkonger Polizei eingefroren.
18. Dezember 2020: Die Studentin und Aktivistin Frances Hui (21) verkündet, dass sie sich freiwillig ins Exil begeben hat. Um sie zu schützen, bricht sie den Kontakt mit ihrer Familie ab.
30. Dezember 2020: In Shenzhen wird endlich das Verfahren für die sogenannten „Hongkong 12“ abgeschlossen, die im Sommer festgenommen wurden, als sie versuchten, mit einem Boot von Hongkong nach Taiwan zu fliehen. Zwei minderjährige Angeklagte wurden zurück nach Hongkong geschickt, wo sie nach zwei Wochen Quarantäne separat angeklagt werden sollen. Die verbliebenen zehn wurden zu Haftstrafen zwischen sieben Monaten und drei Jahren verurteilt. Die Familien der zwölf versuchen seit ihrer Festnahme erfolglos, Kontakt zu ihren Verwandten aufzunehmen.
6. Januar 2021: Mehr als 50 pro-demokratische Politiker*innen werden festgenommen für ihre Teilnahme an den informellen Vorwahlen im Sommer 2020. Der Vorwurf: Subversion der Regierung, weil sie geplant hätte, eine Mehrheit im Hongkonger Parlament zu erlangen und durch Blockade der Regierungsbudgets Druck auf die Regierung auszuüben. Im Rahmen der Festnahmen „besucht“ die Polizei auch zwei pro-demokratische Medien und nimmt erstmals einen US-amerikanischen Staatsbürger ohne Hongkonger Pass fest.
iCable am Ende. Anfang Dezember feuerte die neue Führung des Fernsehsenders iCable 40 Angestellte, darunter auch die Mitglieder des preisgekrönten Investigativteams. In den folgenden Stunden traten aus Solidarität zahlreiche ihrer Kolleg*innen zurück, darunter das gesamte Chinaressort. Als offiziellen Grund für die Kündigungen nannte iCable finanzielle Probleme aufgrund des Coronavirus, aber da es ausgerechnet das hochrespektierte Investigativteam erwischte, vermuten Kritiker*innen eine politische Motivation. Die Journalistin Rachel Cheung hatte bereits im Sommer über den langsamen journalistischen Tod von iCable geschrieben: Dieser begann wohl 2017 mit dem Verkauf an zwei neue Besitzer, die enge wirtschaftliche Beziehungen nach China und entsprechend weniger Interesse an kritischer Berichterstattung hatten. Auch der neue Direktor von iCable, der die Kündigungen mitveranlasst hatte, wurde schon damals als höchstens mittelmäßiger Journalist kritisiert. Hinter derartigen Entwicklungen muss auch nicht unbedingt direkter Druck Chinas oder der Hongkonger Regierung stecken: Oft kann schon das wirtschaftliche Interesse von Besitzern oder Investoren ausreichen.
„Hongkong ist ein Pulverfass“. Ich hatte schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Proteste in Hongkong zwar nachgelassen haben, aber dass dies keinesfalls bedeutet, dass Menschen sich mit der aktuellen Situation abgefunden haben. Nun warnen Forschende nach einer Umfrage unter Schüler*innen, dass die Stadt ein Pulverfass sei, das „jederzeit explodieren könnte“: 87 Prozent der Befragten hätten kein Vertrauen in die Regierung. Die Leute bleiben zuhause, aus einer Mischung aus Angst vor Festnahmen, Erschöpfung und Verzweiflung, aber zufrieden sind sie nicht. Auch nach dem Ende der gescheiterten Regenschirmproteste 2014 folgten mehrere Jahre der politischen Depression, die sich dann 2019 in umso größere Proteste entlud. Es lohnt sich, die Situation weiter im Auge zu behalten.
Offene Fragen bleiben offen. Alex Chow Tsz-loks Sturz von einem Parkhaus im Herbst 2019 führte zum ersten Tod eines Demonstranten im Rahmen der Proteste. Zu dem Tod des 22-jährigen gab es zahlreiche offene Fragen – manche meinten, er sei gestoßen worden. Demonstrierende warfen der Polizei vor, den Krankenwagen auf dem Weg zum Unfallort blockiert zu haben, die Polizei wirft Demonstrierenden ihrerseits das Gleiche vor. Eine Untersuchung von Chows Tod, um die auch seine Eltern gebeten hatten, ist nun zu dem Schluss gekommen, dass es keine ausreichenden Beweise gibt, um zu entscheiden, ob Chow ohne Fremdeinwirkung gefallen ist oder gestoßen wurde.
Republikaner blockieren im Senat. Ausgerechnet der republikanische Senator Ted Cruz, der sich seit 2019 immer wieder als Unterstützer der Hongkonger Proteste aufspielt, hat im US-Senat ein Gesetz verhindert, das Hongkonger Aktivist*innen die Einwanderung und den Aufenthalt in den USA erleichtern sollte. Seine Begründung: sie könnten chinesische Spione sein. Da Cruz bei der letzten Sitzung des aktuellen Senats gegen das Gesetz stimmte, das von Abgeordneten beider Parteien unterstützt wurde, muss der Gesetzgebungsprozess in der nächsten Legislaturperiode nochmal von vorne anfangen.
Coronavirusupdate, Hong Kong Edition. Die vierte Welle des Coronavirus wütet weiter in Hongkong, sodass die Regierung Ende November neue Beschränkungen erließ und u.a. alle Schulen bis Ende 2020 schloss. Mittlerweile sind die neuen Fälle pro Tag auf um die 30 gesunken, nachdem es zwischenzeitlich mehr als 100 waren. Die aktuelle vierte Welle ist bisher ähnlich verlaufen wie die dritte Welle im August, die insgesamt etwa zwei Monate dauerte, bis sie unterdrückt werden konnte.
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Diplomatischer Coup oder Chaos? Kurz vor Ende der Amtszeit Trumps hat Außenminister Mike Pompeo verkündet, alle Beschränkungen für Interaktionen US-amerikanischer Behörden mit Taiwan aufzuheben. Desweiteren ist noch vor der Amtseinführung Bidens ein Besuch der US-amerikanischen UN-Botschafterin geplant. Kritiker*innen werfen der Trump-Regierung vor, hier ohne Rücksicht auf mögliche Folgen für die US-chinesischen Beziehungen und Reaktionen aus Peking Öl ins Feuer zu gießen, um Biden das Leben so schwer wie möglich zu machen. In Taiwan freuen sich allerdings viele über die Anerkennung und eine Veränderung, die als positiv für den internationale Status des Landes wahrgenommen wird. Wer den komplizierten internationalen Status Taiwans besser verstehen möchte, kann sich unsere Podcastfolge zu dem Thema mit dem Journalisten Klaus Bardenhagen anhören.
Coronavirusupdate, Taiwan Edition. Nach 253 Tagen ohne eine inländische COVID-19-Infektion war es am 22.12.2020 soweit: Die Seuchenbekämpfungsbehörde fand erstmals wieder eine Person, die sich in Taiwan mit dem Virus infiziert hatte. Allerdings war auch sofort klar, dass sie sich bei einem Piloten angesteckt hatte, der schon zwei seiner Kolleg*innen auf einem Frachtflug aus den USA angesteckt hatte. Innerhalb weniger Stunden hatten die Behörden die Kontakte der Person identifiziert und getestet. Fast drei Wochen später gab es keine weiteren Infektionen, was darauf hindeutet, dass die Maßnahmen einen wirklichen Ausbruch erfolgreich verhindert haben. Als Reaktion auf den Vorfall hat die Seuchenbekämpfungsbehörde allerdings die Regeln für taiwanesische Airline-Crews verschärft, die sich zwischen internationalen Frachtflügen in Hotels im Ausland aufhalten. Im November hatte die Fluglinie EVA Airlines bereits drei Angestellte wegen Missachtung der Quarantäneregeln für Crews gefeuert, nun wurden auch der verantwortliche Pilot sowie ein weiterer Pilot gefeuert.
Neue Regeln. Gleichzeitig blickt Taiwan auch nervös auf den Rest der Welt, wo einige Länder weiter mit harten Winterwellen von COVID-19 kämpfen. Taiwanesische Airlines haben den Flugverkehr mit Großbritannien eingestellt, um zu verhindern, das die neue Variante des Coronavirus Taiwan erreicht. Gleichzeitig werden die Regeln für Heimquarantäne taiwanesischer Staatsbürger*innen ab Mitte Januar verschärft: Die Quarantäne in den eigenen vier Wänden soll nur noch möglich sein, wenn es mindestens ein Bad pro Person gibt. Zwischenzeitlich schloss Taiwan außerdem die Grenzen für Einreisende aus Indonesien, da sich die Fälle von Indonesier*innen häuften, die nach ihrer Einreise nach Taiwan während der Quarantäne positiv auf COVID-19 getestet wurden.
Tod eines Wanderarbeiters. Das Coronavirus hat in den letzten Wochen auch öffentliche Aufmerksamkeit auf die Lebensbedingungen von Wanderarbeiter*innen in Taiwan geworfen, z.B. als eine Indonesierin nach ihrer Quarantäne positiv auf COVID-19 getestet wurde und prompt die 50 (!) anderen Leute, mit denen sie sich ein Zimmer teilte, auch getestet werden mussten. Bisher zielt der Großteil der Kritik allerdings auf die Frage, warum sie so kurz nach der Quarantäne auf engem Raum mit so vielen anderen Menschen zusammenleben durfte – und nicht, warum solche Lebensbedingungen überhaupt akzeptabel sind. Im Dezember starb außerdem ein Wanderarbeiter aus den Phillippinen bei einem Fabrikbrand in Taoyuan nahe Taipei – ebenfalls ohne nennenswerte öffentliche Diskussionen zu den Arbeitsbedingungen von Wanderarbeiter*innen auszulösen.
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